Weltgewissen Palästina – Mein persönliches Plädoyer gegen das Wegducken im Angesicht des Gazakriegs

Es sieht so aus, als geriete das in Schockstarre und Sprachlosigkeit versinkende Weltgewissengegenüber den horrenden Kriegsereignissen im Gazastreifen in erstes pürbare Bewegung. Die Geballtheit der über den Fernsehmonitor flimmernden Bilder von Massen namenloser zwischen Häusertrümmern liegender erschlagener, erschossener Palästinenser, von in den letzten Zügen gegen den Hungertod ankämpfenden Kleinstkindern und die Fassungslosigkeit darüber lassen es nicht weiter zu, dieses Grauen aus unseren Köpfen und Herzen zu verbannen.

Es ist höchste Zeit, nicht mehr tatenloszuzuschauen, wie UN-Hilfskonvois mit einem Überlebensminimum an Nahrung für die Zivilbevölkerung von der israelischen Besatzungsmacht daran gehindert werden, die Grenze zu überqueren. Zaghafte Maßnahmen laufen an, die jedoch nicht mehr sind als ein Tropfen auf den heißen Stein. Einige europäische Staaten haben sich zusammengetan, um aus Flugzeugen Carepakete auf palästinensisches Gebiet abzuwerfen. Das sind wohlgemeinte, aber ineffektive, gefährliche und kostspielige Aktionen. Als viel sinnvoller erwiesen hat sich, dass bisher schweigende Staaten verspätet umschwenken und ihrer Empörung Gehör verschaffen. Das hat den Druck auf das für die menschenverachtende und dilettantische israelische Kriegsführung verantwortliche Kabinett Netanjahu weltweit deutlich erhöht.

Wer politisch, nicht nur in Israel, ausreichend informiert ist und sich daher in seiner Grundstimmung immun gegen populistische und extremistische Verschwörungstheorien und Hetzparolen fühlt, wird leicht erkennen, dass nicht „die Juden“ oder „das jüdische Volk“, auch nicht derganze „israelische Staat“ schuld sind am Zerstörungs- und Aushungerungskrieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung. Der israelische Ministerpräsident und die ultraorthodoxen zionistischen Mitglieder seines Kabinetts sind heute die Kriegstreiber. Als Grund für ihren wahllosen Kriegs- und Bombenterror im Gazastreifen führen sie die Bekämpfung und Beseitigung der Terrororganisation Hamas an, die am 7. Oktober 2023 das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt hat – und das auf israelischem Staatsgebiet. Und natürlich wird es so sein, dass es im Gazastreifen kaum Palästinenserfamilien gibt, die nicht über irgendwelche Verbindungen zu Hamas-Leuten verfügen. Aber das ist kein Grund für das fortgesetzte systematische Abschlachten von Zivilisten.

In den hiesigen Medien wird inzwischen immer freimütiger darüber berichtet, dass sogar hohe israelische Militärangehörige ein Hauptmotiv Netanjahus für seinen barbarischen Feldzug gegen die Palästinenser darin sehen, dass der Ministerpräsident sich an sein Amt klammert, um nicht wegen schwerer Korruption vor Gericht zu kommen. Netanjahus Ansehen bröckelt nicht nur bei angesehenen israelischen Politikern, sondern auch innerhalb der Bevölkerung seines Landes rapide ab. Grund für eine regelrechte Volkswutgegen ihn ist die zunehmende Angst um die noch in der Hand der Hamas verbliebenen Geiseln, deren Leben umso gefährdeter ist, je länger Netanjahu seine Zerstörungspolitik fortführt und die Lebensmittelkonvois für die vom Hungertodbedrohte palästinensische Bevölkerung weiter behindert.

Meine Großmutter mütterlicherseits stammte aus einer jüdischen Familie und war ungetauft (wie ich vor fast dreißig Jahre einem skeptischen Rabbiner versichern konnte), deshalb waren wir uns wohl bewusst, nach jüdischem Recht als Juden zu gelten, und als Kind im amerikanischen Exil gehörten Verfolgung, Einkerkerung und Ermordung von uns Juden zum Tagesgespräch vor allem im großelterlichen Haus in Pacific Palisades. Ich nahm damals die Inhalte des Gesagten, so weit, wie es mir altersentsprechend schon möglich war, vor allem als „unser Schicksal“ auf.

Wie sehr dessen tiefere Bedeutung, Ursache und Tragweite damals in mein Inneres eingesickert waren, wurde mir erst während des Sechstagekriegs zwischen Israel und den arabischen Staaten im Juni 1967, also als junger Erwachsener, deutlich. In jenem Sommersemester lasen und interpretierten wir im Theologiestudium im Seminar für alttestamentliche Exegese den hebräischen Text des gegenwärtig wieder besonders aktuellen ersten Psalms. Ich fühlte damals während der ersten Kriegstage im Nahen Osten die existenzielle Bedrohung unseres jüdischen Volkes mit jeder Faser meines Körpers und fieberte angesichts des Kriegsgeschehens mit, bis es zum für Israel siegreichen Ende gekommen war. Und danach bangte ich um den Erhalt dieses Sieges. Wut und Hass erfüllten mich wegen der jahrtausende lang vom jüdischen Volk erlittenen Verfolgungen, Pogrome und Zerstörungen.

So entwickelte sich in mir als Nachhall des gewonnenen Sechstagekriegs eine Spirale aus Angstphantasien, Rache und falschem Triumph, die eine vorsorgliche Strafannexion riesiger Territorien der arabischen Kriegsverlierer durch Israel beschwor. Erst Monate später setzte angesichts des erhöhten Risikos der realen israelischen Politik eine langsame Deeskalation meiner überhitzten Phantasie ein. Und im Lauf der kriegerischen Ereignisseim Nahen Osten während der folgenden Jahre und Jahrzehnte sowie des unaufhörlichen Tauziehens zwischen dem gemäßigt liberalen und dem ultraorthodoxen Flügel in Israel auf Kosten der durchgehend benachteiligten arabisch-palästinensischen Völker wurde meine Begeisterung für „mein“ Volk und „mein“ Land zunehmend gedämpft. Mich erfüllte ein wachsendes Gefühl der Ernüchterung, ja Enttäuschung– vergleichbar mit der längerfristig noch traurigeren Desillusionierung bezüglich meiner amerikanischen Heimat.

Gegen Ende eines am 24. Juli 2025 im ZDF gesendeten Gesprächs zwischen Markus Lanz und Altbundespräsident Joachim Gauck kam auch die Tragödie des Gazakriegs zur Sprache. Gauck bekannte, dass er ungeachtet seines Entsetzens über die Verbrechen an der palästinensischen Bevölkerung ein unverbrüchlicher Philose mit sei. Gerade Deutschland, so betonteer, trage trotz des politischen und menschlichen Versagens der derzeitigen israelischen Regierungsspitze die bleibende Verpflichtung zu grenzenloser Solidarität mit Israel, insbesondere nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober. Seitdem jedoch die Angriffe der israelischen Armee zu einer immer wahlloseren Tötung palästinensischer Zivilisten und immer irreversibleren Zerstörung palästinensischen Territoriums führten, sei alles in ein unfassbares Blutbad ausgeufert. Deswegen dürften gerade wir Deutschen uns der immer notwendigeren Kritik an der israelischen Regierungsspitze nicht entziehen. Es sei ein fataler Irrtum zu glauben, dass eine aus humanitären Gründen geforderte Kritik unserer Solidarität mit dem Judentum irgendeinen Abbruch tue.

Gauck ging den Prozess von Ideologiebildung durch: In der Regel führe ein überhöhtes Sicherheitsbedürfnis dazu, dass Menschen ein ihnen noch zu unattraktivvorkommendes Weltbild zu handfesten Doktrinen umbauen beziehungsweise es im religiösen Bereich zu allein seligmachenden, dogmatisch unumstößlichen „Wahrheiten“ hochstilisieren. Jede Abweichung davon seitens Andersdenkender irritiere oder ängstige die Anhänger solcher Doktrinen derart, dass sie diese anderen zu Gegnern, ja zu Feinden herabstufen würden – Anfang und Grund für eine Haltung der Intoleranz.

Gauck hat als Gründe für seine philosemitische Haltung angeführt: Bewunderung und Ehrfurcht gegenüber der großen religiös und kulturell geprägten jüdischen Tradition und unverbrüchliche Solidarität mit der heutigen liberalen, aber immer wieder diskriminierten und bedrohten israelischen Bevölkerung. Gegen diese philosemitische Haltung steht eine Front von Menschen, die ich als Phobosemiten (als Vorstufe zum Antisemitismus) bezeichnen würde. Das sind die, die liberales Judentum, Zionismus und die heutige antipalästinensisch-ultraorthodoxe Partei in einen Topf werfen, jedoch aus Angst, sich den Vorwurf von Antisemitismus einzuhandeln, vor jeder Kritik an den ultraorthodoxen Umtrieben von Israels Regierungsspitze zurückschrecken und sich in Schweigen hüllen. Was den fatalen Nebeneffekt hat, dass, obwohl eigentlich auch sie – besonders in Deutschland – so arg gebeutelten Gesellschaften wie der palästinensischen starke Solidarität entgegenbringen müssten, solche Solidarität mit der gegenüber Israel als inkompatibel empfunden wird. Was als Unterlassung vertrackterweise zu doppelten Schuldgefühlen führen kann.

Ich persönlich glaube, dass Gaucks Beschreibung vielen Menschen Mut gemacht hat, die mörderische Absurdität des Gazakriegs neu zu überdenken. Das eröffnete uns Juden und uns Deutschen eine Chance, die oft erschreckend verquere Wahrnehmung jener Kriegsereignisse mit neuem Selbstbewusstsein und Würde wieder zurechtzurücken – Grundlage für einerstarktes gemeinsames Engagement anstelle des kleinmütigen Wegduckens und fruchtlosen Gegeneinanders angesichts der verfahrenen Situation in Nahost.

Erschienen auch in der FAZ, 23.08.2025