WASHINGTON, D.C.  1. OKTOBER 2019

Meinem ehrenvollen heutigen Auftritt in der Library of Congress habe ich seit dem Beginn meiner hiesigen Vortragsreise förmlich entgegengefiebert. Umso dankbarer bin ich für meine durch das hiesige Goethe-Institut vermittelte Mitwirkung gestern am Schulunterricht an der Banneker Academic Highschool in Washington, weil es da ganz praktisch um die didaktische Festigung und Vertiefung demokratischer Grundeinstellungen von US-amerikanischen Jugendlichen ging. Diese konkrete schulische Erfahrung erschien mir eine noch solidere Basis zu sein für die Übermittlung der Gedanken meines Vortrags Democracy will win an eine illustre und kritische Hörerschaft wie die im hohen Haus der Library of Congress.

Allein schon die Bedeutung und Macht ausstrahlende Atmosphäre des Washingtoner Regierungsviertels besonders vor dem Eingang zum imposanten Bibliotheksgebäude zwischen Repräsentantenhaus, Senat und dem nahegelegenen Capitol trug stark zu meiner inneren festlichen Einstimmung bei. Diese wurde weiter verstärkt bei der Führung entlang der schier endlosen Hallen, Gänge und Archive des Hauses durch den für das deutschsprachige Schrifttum verantwortlichen Sachverständigen David Morris. Er legte mir schließlich noch Originalmanuskripte Thomas Manns vor, insbesondere einen handschriftlichen Briefwechsel zwischen ihm und Sigmund Freud über tiefenpsychologisch bemerkenswerte Parallelen zwischen der Persönlichkeit Kaiser Napoleons I. und der Josephsfigur in der betreffenden Tetralogie.*

Mein Vortrag stieß auf eine aufmerksame und akzeptierende Resonanz bei den Hörern. Ich war gerade hier in diesem Haus besonders glücklich darüber, sozusagen von Hauptstadt zu Hauptstadt die in meinem Vortrag mitenthaltene, transatlantische Botschaft des deutschen Bundespräsidenten an meine amerikanischen Landsleute zu überbringen. Je stärker ich gerade im Sinne dieser Botschaft die Notwendigkeit unermüdlicher Dialoganstrengungen nicht nur zwischen Amerika und der Europäischen Union, sondern auch innerhalb der beiden Staatengemeinschaften betonte, desto schmerzlicher kam in der nachfolgenden, niveauvollen und lebendigen Aussprache das Leiden und die Ratlosigkeit der Menschen über die ihr Land zutiefst spaltenden Polarisierungen und die besorgniserregend um sich greifende Dialogverarmung zum Ausdruck. Einigkeit wurde schließlich erreicht in der wiederholt ausgedrückten Hoffnung, dass sehr langfristig, bzw. weit über die Präsidentschaftswahlen von 2020 hinaus, Menschen in den großstädtischen Oasen einer einigermaßen intakten Gesprächskultur eine besondere Aufgabe haben: Sie sollen über einen verstärkten persönlichen und beruflichen Austausch mit den benachteiligten ländlichen und kleinstädtischen Regionen in kleinen Schritten am Ausbau eines für den Erhalt der Demokratie überlebenswichtigen Dialogs mitwirken.

* Sigmund Freud an Thomas Mann, Wien, 29.11.1936, in: Ders., Briefe 1873-1939. Ausgewählt und herausgegeben von Ernst L. Freud. Frankfurt a. M. 1960, S. 424-427; Thomas Mann an Sigmund Freud, Küsnacht-Zürich, 13.12.1936, in: Ders., Briefe 1889-1936. Herausgegeben von Erika Mann. Frankfurt a. M. 1962, S. 431f.