Democracy for Future
(# Zusammenmiteuchallen # stayathome)
Hallo. Ich grüße Sie alle und möchte hier vor allem viele Schülerinnen und Schüler der Gymnasialoberstufe ansprechen.
Mich stört immer wieder, wenn ich lese oder höre, dass sich unsere Demokratie auf Talfahrt befindet oder sogar am Ende ist. Das ist völlig falsch. Denn in Wirklichkeit hat Demokratie noch gar nicht richtig begonnen. In der Kulturblüte der griechischen und römischen Antike und dann in der Epoche der Aufklärung in der Neuzeit haben die Menschen vor allem Konzepte von Demokratien entwickelt. Und seitdem man sich am Aufbau von demokratischen Systemen versucht hat, hat es auch immer wieder mehr oder weniger erfolgreiche Ansätze gegeben. Besonders die beiden ältesten großen, schon seit 250 Jahren bestehenden Demokratien in England und Amerika zeigen in ihrer Geschichte eine klare demokratische Grundrichtung, obwohl es dort schon früh auch ein Auf und Ab gegeben hat. Nur jetzt in den letzten Jahren haben wir leider mitbekommen, dass in beiden Ländern gleichzeitig alles noch sehr viel wiedersinniger abläuft und mit Demokratie nicht mehr viel zu tun hat. Das ist nicht erst von heute auf morgen so gekommen, sondern hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte. Die Demokratie scheint in Amerika auf halbem Wege stehengeblieben zu sein. Es wird deutlich: Demokratie stagniert, wenn sie sich nicht ständig erneuert und weiterentwickelt. Sie kann aber jederzeit wieder zum Laufen kommen, wenn die Menschen dafür eine kreative Intelligenz, Mut und guten Willen aufbringen, so wie die Gründerväter und immer wieder herausragende Staatsmänner der beiden angelsächsischen Demokratien.
Auf unserem europäischen Festland ist die Entwicklung etwas anders verlaufen. Die Demokratien hier sind, abgesehen vom Sonderfall der Schweiz und Varianten in Frankreich und Skandinavien, kaum mehr als hundert Jahre jung. Damit sind sie noch sehr viel weniger durchgetestet und stabil. Anders als das Einwandererland Amerika, das, wenngleich auf dem belastenden Hintergrund der Massaker an den Ureinwohnern, von Grund auf neu beginnen konnte, musste Europa auf der jahrtausendealten Hypothek eines streng hierarchischen Feudal- und Ständesystems mit Kaisern, Königen und Fürsten aufbauen. Und der mühsame Wechsel von dort zu einer wirklichen Herrschaft des Volkes im frühen 20. Jahrhundert erforderte das Riesenopfer von zwei Weltkriegen mit zusammen an die 60 Millionen Toten, Terrordiktaturen, Fremdherrschaft und millionenfachen Massenmorden. Unsere jetzige westdeutsche Demokratie ist erst vor 70 Jahren mit damals starker US-amerikanischer Hilfe auf den Trümmern des „Dritten Reiches“ entstanden und diese hat in vielen kleinen Schritten über Jahrzehnte ihre heutige Stabilität errungen, trotz unserer berechtigten Angst vor der Keule neuer rechtsextremer und rassistischer Hass- und Hetzparolen auch hierzulande.
Gerade in den vergangenen Wochen ist ein unerwartet neuer Test für Demokratie und Menschenwürde hinzugekommen. Die Corona-Covid-19-Pandemie. Durch diese ist eine Situation mit neuen Notwendigkeiten entstanden, ein neuer Imperativ. Direkt richtet er sich gegen die Seuche, indirekt gegen Rückfälle in die Unmenschlichkeit populistisch nationalistischer Gesinnung. Wir erleben bei uns eine nie da gewesene tätige Solidarität und eine berührende Mitmenschlichkeit gegenüber den Kranken, Alten und Schwachen. Die Nachbarschaftshilfen, das Musizieren auf Balkonen und Innenhöfen, Lebensmittelspenden für Obdachlose. An vorderster Front stehen bis zur Erschöpfung tätige und sich stündlich einer Ansteckung durch das Virus aussetzende Ärzte und anderweitige, sich ebenfalls in Gefahr bringende Helfer. Die Menschen lernen wieder das Hinsehen, das Fernbleiben, das Abgeben und das Aushalten. Trotzdem scheiden sich im Ausnahmezustand die Geister. So gibt es leider auch Menschen, die das Unglück der anderen für ihren eigenen Profit ausnutzen oder durch leichtsinniges Benehmen ihre Mitmenschen und sich selbst verantwortungslos gefährden.
Die Corona-Krise ist jetzt auch ganz besonders zur Angelegenheit des Staates geworden. Die uns sonst so geläufige Tendenz von Bundestag und Regierung, sich nicht nur gegenseitig, sondern auch gegen uns Bürger wie eine Blase abzuschotten, hat sich mit dem Beginn der Corona-Krise schlagartig ins Gegenteil gewendet. Die liberale Demokratie greift jetzt mit einem ungewohnt raschen und effektiven Krisenmanagement drakonisch durch, auch wirtschaftlich und mit finanziellen Hilfen, aber auch mit der Einschränkung bürgerlicher Grundrechte. Sicherheit vor Freiheit. Seuchenprävention auf der Grundlage einer neuen Infektionsschutz-Gesetzgebung als Weg in die Gesundheitsdiktatur? Diese Gefahr besteht nicht, solange in unserer Notstandsituation diese Bestimmungen mit dem Grundgesetz konform sind. Der Staat regelt nur unter dieser Voraussetzung auch das öffentliche Leben. Dabei wird die Beschneidung freier Rechte etwa durch Verhängung von Ausgangssperren ohne Protest hingenommen und glücklicherweise weitgehend befolgt. Geht es hier doch schließlich einzig und allein um das Überleben von uns allen auf der Grundlage virologischer und sonstiger medizinischer Fachkenntnisse. Die Regierung genießt laut Politbarometer derzeit Zustimmungswerte wie noch nie seit dem Krieg. Mir scheint, dass der diesmal erzwungene Wandel zu einem grundlegenden Bewusstseinssprung geführt hat, der unser Leben global auf lange Zeit umkrempeln könnte.
Ich denke, wir Menschen werden nur äußerst langsam reif für die Nutzung unserer Freiheit im Dienste des kostbaren, aber überaus anfälligen Systems unserer jungen Demokratie. Dieses Pflänzchen gilt es jetzt wachstumsfördernd zu pflegen und vor ewig gestrigen, antidemokratischen Übergriffen zu schützen. Unser Bürgertum braucht eine unermüdliche, motivierende Aufklärung und Bewusstmachung darüber, auf welche Werte es beim Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit ankommt. Wir müssen lernen, gemeinsam konstruktiv unsere Zukunft zu gestalten. Dieser Lernprozess kann nicht früh genug in Familie und Schule einsetzen. Von einer gegen Zerstörungsversuche resistenten demokratischen Ordnung sind wir noch meilenweit entfernt.
Ich finde, wir sollten die uns geschenkte Möglichkeit eines Miteinanders dafür nutzen, unsere erst vor kurzen 70 oder 100 Jahren hier begonnenen Demokratisierungsversuche sehr viel weiter und fester auszubauen. Und besonders nach meinen Erfahrungen über mehrere Wochen in den USA im vergangenen Herbst betone ich: immer zusammen mit euch allen als der sich immer lautstärker bemerkbar machenden jungen Generation im Rücken. Denn gerade eure Generation spürt am ehrlichsten, am klarsten und am drängendsten, dass Begriffe wie „Verständnis“ und „Wertschätzung“ allein leere Worthülsen sind. Ihr spürt genau, dass es auf die mühsame, praktische Kleinarbeit auf der Basis authentischer Überzeugungen ankommt, auf Identität und Respekt, auf Schutz und Erhaltung.
Unser Miteinander ist oder war zumindest bisher gefährdet durch ein weiteres, nicht weniger tödliches Virus, welches sich ebenfalls zu einer Pandemie ausgebreitet hat. Es ist die Trias von Gier, Hass und Ignoranz. Aus ihm erwachsen Egoismus, Größenwahn und Abschottung, die sich rasch zu Feindbildern und zu Vernichtungsphantasien auswachsen. Dieses Übel ist der hauptsächliche Grund für die weltweite Ungerechtigkeit und für Kriege und Zerstörung.
Ich glaube, dass der Bewusstseinssprung, der uns der ungeahnt über uns hereingebrochene Corona-Alptraum ermöglicht hat, eine große Chance für uns ist, jenes andere Virus einzudämmen, falls es dafür nicht zu spät ist. Weil wir in dieser Stunde der Ohnmacht und der uns aufgezwungenen gespenstischen Stille alle aufeinander angewiesen sind, müssen wir umso enger zusammenrücken, wenn auch nur virtuell wegen des gebotenen räumlichen Abstands. Ich möchte – und das ist der Kernpunkt meiner Message – dass wir alle jetzt in der Stunde der höchsten Gefahr innehalten, tief durchatmen und zu uns selber kommen und umso mehr die unschätzbare Chance unseres Miteinanders im Sinne eines gemeinsamen Zupackens verwirklichen. Für mich ist dieses Miteinander nicht nur etwas Räumliches, äußerlich Praktisches. Ich persönlich glaube daran, dass dieses einen tieferen Sinn hat. Ich meine die Einbindung eines jeden Menschen in einen universalen Beziehungszusammenhang. Ob Demokratie, Dialog und Empathie oder gar Liebe – alles sind Metaphern und wichtige Zugänge zu diesem selben einen, großen und zusammenhängenden Ganzen, in welches alles zusammenfließt. Und ich bin davon überzeugt, dass unsere Beziehung zu dem Ganzen nicht mit dem Tod endet, dem wir Menschen gegenwärtig so nahe gekommen sind. Denn einzig die Kraft der Beziehung im Kreislauf zwischen Entstehen, Vergehen und Wiedererstehen vermag den Tod zu überwinden. Dies hat der Philosoph Vilém Flusser einmal mit den Worten ausgedrückt, die jetzt als Inschrift auf seinem Grabstein auf dem neuen jüdischen Friedhof in Prag steht: Ich bin sterblich. Du bist sterblich. Zusammen sind wir unsterblich.
Ich wünsche uns allen viel Kraft, heil aus unserem jetzigen Alarmzustand herauszukommen und danach unsere neuen Erfahrungen und Erkenntnisse weiter auszubauen.
Danke fürs Dabeisein!
© Frido Mann 2020